11.05.2021
Digitalisierung ist längst in alle Lebensbereiche eingedrungen. Im Gesundheitswesen bieten neue Technologien hervorragende Möglichkeiten, es müssen aber noch einige Hürden überwunden werden. Auf regulatorische Rahmenbedingungen, optimale Infrastrukturen und nicht zuletzt die Einbindung aller Akteure sollte besonderes Augenmerk gelegt werden. In der Qualifizierungsveranstaltung „Wie tickt Digitalisierung im Gesundheitswesen“, organisiert vom Medizintechnik-Cluster der oö. Standortagentur Business Upper Austria, warfen die Experten und Teilnehmer einen Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Branche.
Drei Impulsreferate machten deutlich: Die digitale Transformation wird das Gesundheitswesen in den nächsten Jahren stark verändern. Dafür ist jedoch ein langer Atem nötig, befürchtet Alexander Degelsegger-Márquez von der Gesundheit Österreich GmbH: „Bis die Digitalisierung im Krankenhaus von A bis Z umgesetzt ist, braucht es noch zehn bis 15 Jahre.“ Degelsegger-Márquez betrachtete in seinem Vortrag die Digitalisierung aus der Public Health-Perspektive. Seiner Einschätzung nach reicht es nicht, analoge Prozesse nur zu digitalisieren, denn das gesamte System wird sich verändern. „Es entsteht eine andere Art der Arzt-Patienten-Beziehung. Patienten informieren sich vor der Behandlung, recherchieren im Internet. Das macht den Patienten zu einem anderen Akteur, weil er plötzlich nicht mehr auf die Interpretation des Gegenübers angewiesen ist.“ Degelsegger-Márquez untermauert seine These mit einer Reihe von Beispielen: Von 24-Stunden-Selfcheckboxen in China, die nur so groß wie Telefonzellen sind, aber ein medizinisches Minizentrum mit angeschlossener Apotheke beinhalten, über ein Pilotprojekt aus England, in dem mit Hilfe von Amazons Alexa Gesundheitsdaten gesammelt und auf deren Grundlage Krankenhausaufenthalte reduziert werden können und nicht zu vergessen der Chatbot von Symptoma, der Österreicher*innen die Kommunikation mit dem Gesundheitswesen erleichtert.
Bei vielen neuen Systemen stellen sich jedoch Fragen des Datenschutzes und der Diskriminierung. Errungenschaften, die auf Wearables wie Apple Watch oder weiteren Aktivitätstrackern basieren, sind nicht für alle Bevölkerungsgruppen erschwinglich. Kritisch zu betrachten ist auch, wie weit die Gläubigkeit an den gläsernen Menschen geht. Was macht es mit Berufsgruppen, wenn eine Maschine dank Künstlicher Intelligenz bereits besser in der Lage ist, medizinische Scans zu interpretieren? Und wer ist bei Fehltherapien und -diagnosen haftbar? „Der österreichische Markt ist so gestrickt, dass wir mit den Entwicklungen umgehen müssen, wir können sie nicht ignorieren. Ansonsten ist es denkbar, dass es zu Parallelsystemen kommt. Dann treten Menschen, die etwa mit einer Apple Watch ausgestattet sind, gar nicht mehr mit dem öffentlichen Gesundheitswesen in Kontakt, sie verfügen vielleicht auch über ein Apple Medical Abo und haben alles abgedeckt. Im schlimmsten Fall kommt es zur Solidaritätsdiskussion. Wir müssen die Trends nutzen, um unser System zu verbessern und dafür sorgen, dass keine Parallelsysteme wachsen.“ Degelsegger-Márquez gab außerdem einen Überblick über technische Systeme, die in Österreich bereits im Einsatz sind. Bei ELGA, E-Card, e-Impfpass oder der COVID-19-Hotline 1450 zeigt sich, dass der meiste Aufwand nicht in der Technik, sondern in der Infrastruktur steckt. Auch auf EU-Ebene gibt es eine ganze Reihe von Überlegungen, die bereits angestoßen oder noch in der Sondierungsphase sind, allen voran hat die neue EU-Medizinprodukteverordnung für höhere Anforderungen bei der Zulassung gesorgt. Die Schlussfolgerung des Experten lautet: „Es wird aus unserer Sicht kein Public Health ohne Digital Health mehr geben und umgekehrt. Die Auswirkungen müssen immer mitbedacht werden.“ Es sei auch denkbar, dass Ärzte in Zukunft nicht nur Pharmazeutika, sondern auch Apps verschreiben. Patricia Papic, Organisatorin und Projektmanagerin im Medizintechnik-Cluster, unterstreicht: „IT und Medizintechnik werden noch mehr ineinandergreifen. Auch im Krankenhausumfeld wird man die Bereiche bald nicht mehr trennen können.“
Humayaun Kabir, CIO der OÖ Gesundheitsholding, stellte den Einsatz von Technologien für eine optimierte Patientenversorgung vor. Der Zeitraum für gesicherte Vorhersagen sei aber begrenzt: „Wenn wir uns mit Digitalisierung und Innovationen beschäftigen, können wir höchstens drei bis vier Jahre vorausschauen, aber wir können bereits feststellen, was uns in Zukunft mitbeeinflussen wird. Digitalisierung ist ein Enabler, wir wollen damit etwas bewegen. Und trotzdem werden Menschen nicht in ein Krankenhaus kommen, weil es eine perfekte IT hat.“ Vorrangig gehe es darum, Prozesse zu vereinfachen. Dabei müssen die unterschiedlichen Bedürfnisse – vom Patienten über den Arzt bis hin zum Klinikmanager - berücksichtigt werden. Die OÖ Gesundheitsholding hat anhand von 1000 Patient*innen gemessen, wie man die Kernprozesse im Krankenhaus so optimieren könnte, dass es zu einer Zeitersparnis von 20 Minuten kommt. Diese entscheidenden Minuten würden nicht nur das Personal entlasten und finanzielle Mittel freistellen, die wiederum für Verbesserungen genutzt werden können, sondern tatsächlich Leben retten. Gleichzeitig sei das Krankenhaus laut Kabir kein Biotop: „Entscheidungen hängen nicht allein von den Stakeholdern ab, auch nicht von der Geschäftsführung. Vielmehr sind es die technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die einen großen Einfluss haben.“ Vier Faktoren sind dabei ausschlaggebend: 1. Veränderungen durch Wearables, denn die grenzenlose Vernetzung durch Cloud Computing wird eines der Megathemen der nächsten drei bis vier Jahre sein; 2. der demografische Wandel, da Technologie die Menschen dabei unterstützen kann, in gewohnter Umgebung alt zu werden; 3. Human Ressource Management und 4. Wissensmanagement, das von Big Data bis zu Künstlicher Intelligenz reicht. Gerade dem Human Ressource Management sollte Aufmerksamkeit geschenkt werden. „Ohne qualifizierte Mitarbeiter werden wir nie unsere Ziele erreichen. Neue Technologien können uns auch beim Fachkräftemangel unterstützen. Wenn unser größtes Asset die Mitarbeiter sind, müssen wir darauf achten, wie Mitarbeiterqualifizierung im technologischen Umfeld möglich ist. Wenn wir das nicht kanalisieren, dann passiert der Information Overkill und wir überfordern die Mitarbeiter. Wir implementieren Technologien, aber wir bekommen die PS nicht auf die Straße.“ ist sich Kabir sicher. Auf dem Weg zum Krankenhaus 4.0 steht und fällt alles mit der Infrastruktur. „Man kann nicht mit der Digitalisierung beginnen, bevor nicht geklärt ist, wofür wir sie nutzen. Die Infrastruktur muss funktionieren und beherrschbar sein, das ist eine Herausforderung. Die Digitalisierung wird kommen. Entweder wir gestalten die Entwicklung mit, oder wir werden überrollt.“
Über die aktuellen und zukünftigen E-Health-Applikationen klärte Martin Brunninger, Leiter im Dachverband der oö. Sozialversicherungsträger, auf. Ähnlich wie sein Vorredner plädiert er dafür, die Komplexität aus dem System herauszunehmen und die Prozesse zu vereinfachen. Die Versorgungsmodelle benötigen vor allem im ländlichen Bereich eine Neuausrichtung. Hier könnte die Telemedizin ansetzen, um vor allem das Problem mit multimorbiden Krankheiten einzudämmen. „2,4 Millionen Österreicher sind als morbid registriert, rund die Hälfte davon als multimorbid. Wir wissen, dass ‚one size fits all‘ nicht funktionieren wird. Mit den Möglichkeiten der Telemedizin können begleitende Digital Health-Maßnahmen einsetzen.“ Als Beispiele nennt Brunninger die Bilderkennung bei Melanomen und die Möglichkeit, Schwindelanfälle mittels Augenanalyse zu diagnostizieren, wodurch Allgemeinmediziner zielorientierter arbeiten können. Es gilt auch, auf vermeidbare Kostenträger aufgrund von Fehlversorgung zu achten, sowohl in der Unter- als auch in der Überversorgung. Schätzungen zufolge landen bis zu 15 Prozent der gesamten Arzneimittelkosten im Mistkübel, falsche Einnahme führt wiederum zu Hospitalisierungen. All das könne man mit neuen Technologien besser bewerkstelligen. Der Dachverband hat in den letzten Jahren viele E-Health-Applikationen angestoßen. Die E-Card hat sich bereits bewährt, bis zum Ende des Jahres soll auch das E-Rezept eingeführt werden. ELGA ist seit zehn Jahren ein wesentliches Instrument zur Versorgung von 97 Prozent der Bevölkerung, an der besseren Auslastung wird noch gearbeitet. meineSV hat mit 1,3 Millionen Nutzern noch zu wenig Reichweite, der E-Impfpass ist hingegen auf einem guten Weg. Nun gilt es aber auch, die Vielfalt an Daten nutzbar zu machen, erklärt Brunninger: „Wir haben viele Daten in Österreich, aber nicht alle sind miteinander verknüpft. Das ist ein weiterer Schlüssel zur Optimierung. Ein großer Datenschatz liegt noch außerhalb unseres Einflusses, nämlich bei Wearables bzw. Selfmonitoring. Darin steckt sehr viel Potenzial und der Markt wächst. 2014 wurden pro Jahr noch 80 Millionen Unions weltweit verkauft, heute sind es 100 Millionen. Diese Daten sollten aus unserer Sicht in irgendeiner Form genutzt und in ELGA eingespeist werden. Das ist ein mittelfristiges Ziel, das noch Zeit braucht, aber es ist im Sinne unserer Patienten.“ Ein weiteres Vorhaben ist ein homogenes Governance Modell, das Bund und Länder integriert. Oberösterreich hätte hier die Chance, als Vorbild zu agieren, denn in Bereichen wie z.B. der Onkologie verfügt das Bundesland über Spitzenforschung. Patricia Papic spannt den Bogen zur Digitalen Patientenreise: „Es obliegt jedem selbst, wie viele Daten weitergegeben werden, aber je mehr das System mit Daten gefüttert wird, desto eher kommt es zur Weiterentwicklung. Unser Ziel es auch, patientenorientierte Lösungen zu finden, die sich anhand der Wertschöpfungskette ansiedeln.“ Der kommende Digital Health Call, der im Juli startet, soll durch innovative Projekte dazu beitragen, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben.
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