15.11.2022
Wer als Neuling ein Medizinprodukt einreichen möchte, steht vor einer Mammutaufgabe. Zahlreiche Gesetze, Verordnungen und Regularien erschweren den Markteintritt. Die Veranstaltung Regulatory.Affairs des Medizintechnik-Clusters der oö. Standortagentur Business Upper Austria, die am 9. November 2022 in Linz stattfand, nahm Einsteigern die ersten Ängste und sorgte auch bei Fortgeschrittenen für Aha-Erlebnisse.
Was ist eigentlich ein Medizinprodukt? Die Frage klingt auf den ersten Blick trivial. Bei genauerem Hinsehen fallen jedoch viele vermeintliche Medizinprodukte nicht in diese Kategorie. Gabriele Fink-Fischeidl, Medizintechnik-Trainerin und Expertin der ORGATECH EDV+Unternehmensberatung GmbH, klärte bereits zu Beginn der Veranstaltung über die europäischen Definitionen auf. Medizinprodukte sind Anwendungen am und im menschlichen Körper mit physikalischer Wirkung, jedoch nicht pharmakologisch, nicht immunologisch und nicht metabolisch. Ein In-vitro-Diagnostikum hingegen bezieht sich auf Vorgehen bei Proben aus dem menschlichen Körper. Die folgende Auflistung der EU-Verordnungen, Gesetze, Normen und Standards sowie Guidelines zeigte schnell, welche Hürden man bei der Einführung von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika überwinden muss. Dass der Technischen Dokumentation eine große Bedeutung zukommt, verstärkte Fink-Fischeidl mit einem Appell: „Wenn Sie eine gut dokumentierte Entwicklung haben, die auch Fehlentwicklungen beinhaltet, können Sie im Fall des Falles viel leichter feststellen, warum und wie etwas passiert ist. Meine Bitte ist daher: Schreiben Sie alles auf, wenn Sie entwickeln. Mit einem ordentlich geführten Journal fällt danach alles leichter.“
Bernhard Schwartz von der FH Gesundheitsberufe OÖ GmbH, der als Klinischer Forscher, Statistiker und Unternehmer tätig ist, brach in seinem Vortrag eine Lanze für Single-Subject-Design-Studien – kurz: SSD-Studien. Er stellte konventionelle Studien den SSD-Studien gegenüber und gab einen kurzweiligen Überblick über die Vor- und Nachteile beider Methoden. „SSD-Studien sind vor allem eine Möglichkeit, um durch kleinere Kohorten die Kosten deutlich zu reduzieren, den Entwicklungsprozess zielgerichteter zu entwickeln, Fehlpfade frühzeitig zu erkennen. Sie sind allerdings nicht als Zulassungsstudie geeignet und eher für reversible Interventionen vorgesehen“, gab Schwartz zu bedenken. Dass es aber zahlreiche Anwendungsfälle gibt, demonstriere Schwartz anhand vieler Beispiele aus dem Umfeld des Medizintechnik-Clusters und des MedTech-Inkubators.
Für die Zertifizierung eines Medizinprodukts oder In-vitro-Diagostikums benötigt man einen langen Atem. Bis zu 18 Monate dauert es laut Karin Schwenoha, Head of Competence Management bei QMD Services. Die Zeit lässt sich unter Umständen deutlich verkürzen, wenn die Technische Dokumentation von Anfang an besser geplant wird, denn bis zur Einreichung hat knapp die Hälfte der Hersteller:innen nur 25 Prozent der Technischen Dokumentation fertiggestellt. Kurz gesagt sollte man alles, was dokumentierbar ist, auch dokumentieren. Der Mangel an Benannten Stellen ist aktuell noch ein Problem. Schwenoha hat jedoch eine gute Nachricht: „Es handelt sich zwar um ein laufendes Verfahren, aber wir sind zuversichtlich, dass sich die IVDR-Benennung in Oberösterreich noch vor Weihnachten ausgeht. Der Erstbericht war bereits positiv. Es gibt schon jetzt die Möglichkeit, sich vorab anzumelden und die Scopes abzufragen. Sobald die Benennung abgeschlossen ist, werden die Interessenten informiert. Für die MDR-Benennung rechnen wir damit, dass es in einem halben Jahr so weit sein wird.“
Über die Erfahrungen mit der Implementierung der EU MDR berichtete Melanie Baumgartner, CEO der RnB Consulting GmbH. Das Unternehmen hilft dabei den regulatorischen Anforderungen gerecht zu werden. Dabei begleiten sie aktiv unterstützend beispielsweise beim Risikomanagement, dem Usability Engineering, der klinischen Bewertung, der Leistungsbewertung und allen weiteren Disziplinen, um den MDR- und IVDR-Anforderungen gerecht zu werden. Das ist nicht nur für Einsteiger von Vorteil. „Bestehende Hersteller von Medizinprodukten haben oft fest eingefahrene Prozesse. Wenn dann eine neue Verordnung kommt, wirft das alles um. Die größten Baustellen sind hier das Aktualisieren, Adaptieren und Ändern von Prozessen“, erklärte Baumgartner.
Die Änderung der IVDR im Dezember 2021 hat viele Hersteller:innen vor den Kopf gestoßen. Ohne Übergangsphasen hätten viele Produkte vom Markt genommen werden müssen. Am Beispiel der GENSPEED Biotech GmbH zeigte Max Sonnleitner, welche nicht-signifikaten Änderungen möglich sind und welche nicht. Die Vorgaben für Anpassungen bei Design, Software oder Materialien sind streng, aber es gibt auch einige Grauzonen, die nicht immer stimmig sind.
Udo Gennari aus der Forschungs- und Innovationsförderberatung der oö. Standortagentur Business Upper Austria gab einen spannenden Einblick in das Branding von Medizinprodukten und präsentierte Statistiken der umsatzstärksten Medizintechnik-Unternehmen weltweit. Aktuell ist vor allem ein Zuwachs an Patenten aus dem Bereich Digital Healthcare zu beobachten. Dadurch lassen sich Trends ableiten: Die Verbraucher haben die Kontrolle, virtuelle Pflege wird wachsen, Krankenhäuser werden smarter und Unternehmen wie Walmart und Amazon gestalten das Gesundheitswesen neu. Partnerunternehmen des Medizintechnik-Clusters können übrigens auch Angebote der oö. Standortagentur Business Upper Austria in Anspruch nehmen und somit die Forschungs- und Innovationsförderberatung nutzen.
Zum Abschluss der Regulatory.Affairs 2022 wiesen die Organisatorinnen Marketa Knauder und Martha Wagner aus dem Medizintechnik-Cluster auf die Möglichkeit hin, kostenlos an den demnächst stattfindenden Innovationscamps teilzunehmen. Es handelt sich dabei um eine Qualifizierungsoffensive der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft. Potenziell interessierte Unternehmen haben noch die Möglichkeit, ihre Wünsche in Bezug auf Inhalte rund um Regularien in der Medizintechnik einzubringen.
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